Exklusiv-Interview

Mentaltrainer erklärt: Darum scheitern die deutschen Skispringer seit 23 Jahren an der Vierschanzentournee

Foto: imago / GEPA

Seit über 23 Jahren warten Deutschlands Skispringer auf den Sieg bei der Vierschanzentournee. Ein Mentaltrainer erklärt im skispringen.com-Interview, warum es bislang nicht klappt und wo die speziellen Herausforderungen im Skispringen liegen.

Michael Draksal ist in der Welt des Spitzensports ein gefragter Mann, wenn es um die Millimeterarbeit zwischen den Ohren geht: Der Sportwissenschaftler und Präsident der Deutschen Mentaltrainer-Akademie begleitete Sebastian Vettel auf dem Weg zu seinem ersten Formel-1-Weltmeistertitel und blickt auf eine lange Historie im Spitzensport zurück. Zuletzt feierte er unter anderem als Mentaltrainer von Skispringerin Julina Kreibich deren beeindruckendes Comeback nach einem Kreuzbandriss, das im Februar 2025 mit dem Junioren-Weltmeistertitel in Lake Placid gekrönt wurde.

Im exklusiven Interview mit skispringen.com-Redakteur Marco Ries analysiert Draksal, warum der ersehnte deutsche Tournee-Sieg oft schon am Startbalken verloren geht und weshalb Erwartungen für einen Athleten wie Gift wirken können. Er gibt tiefe Einblicke in das sogenannte Kino im Kopf, erklärt die Arbeit mit traumatischen Sturzbildern und verrät, warum ausgerechnet eine Übung mit der linken Hand sowie ein bewusstes Lächeln am Balken die entscheidenden Faktoren für den lang ersehnten Befreiungsschlag sein könnten.

Herr Draksal, Sie arbeiten mit Athleten aus verschiedensten Disziplinen. Was macht das Skispringen aus psychologischer Sicht im Vergleich zu anderen Sportarten so besonders?

Michael Draksal: Skispringen ist eine Risikosportart, das macht einen großen Reiz aus. Dazu kommt die extreme Kürze beim Absprung – das ist zwar vergleichbar mit anderen Sportarten, aber am Schanzentisch entscheidet sich alles innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde. Man hat nur diesen einen Versuch, keine zweite Chance. Gerade bei der Vierschanzentournee hängen davon große Konsequenzen ab. Mich fasziniert dieses Mindset: „Es gibt nur einen Versuch und der zählt.“ Davon können wir auch für den Alltag lernen: mehr im Hier und Jetzt zu leben und den Moment als entscheidend wahrzunehmen.

„Wer oben auf dem Balken darüber nachdenkt, wie der Ablauf sein muss, der hat schon verloren“

Oft wird Skispringen mit Golf verglichen, weil es auf das Timing im Bruchteil einer Sekunde ankommt. Passt dieser Vergleich?

Draksal: Grundsätzlich passt der Vergleich, vor allem hinsichtlich der Körperwahrnehmung: „Wie fühlt sich der Schwung an?“ ist eine zentrale Frage im Golf. Das Bewegungsgefühl ist entscheidend. Franziska van Almsick hat nach ihrer Niederlage in Athen einmal gesagt, sie konnte das Wasser gar nicht richtig greifen. Im Schwimmen ist es das Wassergefühl, im Tennis heißt es Ballgefühl und im Skispringen ist es eben das Fluggefühl – es geht immer um das optimale Bewegungsgefühl. Das muss stimmen und das können wir im Mentaltraining auch tatsächlich trainieren.

Wie kann man so ein abstraktes Gefühl denn trainieren?

Draksal: Wir nutzen dafür das „Kino im Kopf“. Der Athlet geht den Sprung mit geschlossenen Augen, in der gleichen Körperposition und Geschwindigkeit mental durch. Dabei reagieren sogar die Muskeln – das nennt man den Carpenter-Effekt. Jede Vorstellung einer Bewegung bewirkt eine messbare muskuläre Reaktion. Zusätzlich arbeiten wir daran, das Gefühl in Worte zu fassen und tatsächlich auch aufzuschreiben: Wie fühlt es sich oben auf dem Balken an? Wie fühlt sich der Absprung an? Wie der Flug? Wie die Landung? Das Ziel ist es, eine interne Repräsentation dieses perfekten Ablaufs zu schaffen, um im Wettkampf in den Flow zu kommen. Das ist immer das Ziel für den Wettkampf.

Im Wettkampf selbst soll der Kopf dann aber ausgeschaltet sein, oder?

Draksal: Exakt. Wer oben auf dem Balken noch darüber nachdenkt, wie der Ablauf sein muss oder hofft, dass es klappt, der hat schon verloren. Das gehört ins Training. Im Wettkampf geht es nur noch um das Abrufen, um Automatismen und um das Genießen. Training im Wettkampf funktioniert nicht.

Sie sprechen vom Skispringen als Risikosport – in der Vergangenheit kam es immer wieder zu teils schweren Stürzen. Auch aus mentaler Sicht ist es sicherlich eine Herausforderung, solche Erlebnisse zu verarbeiten – wie machen Sie das?

Draksal: Wir lösen das oft mit einer Art Konfrontationstherapie per Video. Der Athlet schaut sich den Sturz oder die kritische Phase immer wieder an, während wir über Biofeedback seinen Stressgrad messen. Wir wiederholen das so lange, bis der Hautleitwert nicht mehr ausschlägt – das ist das Zeichen, dass das Nervensystem das Trauma verarbeitet hat. Parallel dazu visualisieren wir im „Kino im Kopf“ den perfekten Ablauf, die sichere Landung, bis dieser positive Film die Angst überschrieben hat.

„Erwartungen sind Gift für den Wettkampf. Unser Gehirn braucht einen Aufgabenfokus.“

Kommen wir zur Vierschanzentournee. Seit über 23 Jahren gab es keinen deutschen Gesamtsieger mehr, obwohl die Athleten gerade in der Vergangenheit im Vorfeld oft stark waren. Ist der Erwartungsdruck das Hauptproblem?

Draksal: Ich wage die provokante These: Das ist der Hauptgrund! Erwartungen sind Gift für den Wettkampf. Unser Gehirn braucht einen Aufgabenfokus. Wenn ich aber während der Aufgabe schon an die Konsequenzen – also den Sieg oder die Niederlage – denke, kann ich meine Bestleistung nicht abrufen. Man muss diese Gedanken beiseite schieben. Vor und während des Sprungs zählen nur aufgabenbezogene Gedanken. Man darf sich freuen und ärgern, das gehört alles dazu, aber erst nach dem Wettkampf.

Die mediale Aufmerksamkeit bei der Tournee ist riesig, Millionen schauen zu. Raten Sie den Sportlern zu einer Art „Digital Detox“ während der Tournee? Oder kann das auch für zusätzliche Motivation sorgen?

Draksal: Es sind dann plötzlich 60 Millionen Bundestrainer unterwegs. Positive Nachrichten können beflügeln, aber harte Kritik oder „Hate“ im Netz trifft Profisportler oft schwerer, als man denkt. Sie sind ja meist sehr sensible Menschen – diese Feinfühligkeit brauchen sie für ihren Sport. Dementsprechend ist das schon eine Gefahr, wenn da so harte Kritik auf einen einprasselt. Deshalb plädiere ich dafür, das Smartphone wegzulegen oder die Nachrichten zumindest stark zu filtern. Es gibt auch Medientrainings als Thema im Mentaltraining, was den Umgang mit Medien trainiert. Das kann helfen, den Fokus auf dem Wettkampf zu lassen.

Die ersten beiden Wettkämpfe finden in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen vor jeweils rund 25.000 Zuschauern statt. Kann der vermeintliche Heimvorteil für die deutschen Skispringer auch ein Heimnachteil sein?

Draksal: Absolut. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Fans ihre Mannschaft auch „zur Niederlage klatschen“ können. Die Energie der Menge motiviert und aktiviert enorm. Die Gefahr ist aber, dass man „überpaced“, also vor lauter Adrenalin zu viel will und Fehler macht. Wenn man aufgrund dieser Überaktivierung zu früh abspringt, hat man als Skispringer ein Problem. Man muss lernen, bei seinen Routinen zu bleiben. Idealerweise simuliert man so eine Geräuschkulisse, um sich daran zu gewöhnen, oder baut auch eine Art Rollenspiel aktiv ins Training ein.

„Ich sehe zu wenige Skispringer, die lächeln.“

Glauben Sie, dass die lange Sieglos-Serie der deutschen Skispringer inzwischen wie eine selbsterfüllende Prophezeiung wirkt? Selbst auf junge Springer, die beim letzten deutschen Sieg noch Kleinkinder waren?

Draksal: Ja, das ist eine Frage der Gedankenhygiene. Wenn im Hinterkopf immer der Gedanke lauert „Hoffentlich versage ich jetzt nicht“, ist das eine negative Spirale. Man braucht ein neues, inspirierendes Motto für die Tournee, um diese Geschichte im Kopf zu überschreiben. Spontan fallen mir dazu Sätze wie „Geschichte wird gemacht, nicht wiederholt“ oder auch „Der perfekte Sprung ist jetzt“ ein. Diese Gedankenpflege sollte für Sportler genauso wichtig sein wie Körperpflege.

Angenommen, ein Springer wie Andreas Wellinger ruft Sie kurz vor dem entscheidenden Sprung am Bergisel in Innsbruck an. Was raten Sie ihm in der Kürze der Zeit?

Draksal: Das wäre dann eine Kurzfrist-Intervention oder Symptombehandlung, keine Ursachenforschung. Mein Tipp wäre: 15-mal mit der linken Hand die Faust ballen. Studien haben gezeigt, dass dies das Gehirn in einen Zustand bringt, der den Flow begünstigt. Und: Lächeln! Ich sehe zu wenige Skispringer, die lächeln. Selbst ein gespieltes Lächeln hat schon positive physiologische Effekte und signalisiert dem Körper Sicherheit. Er soll den Moment genießen und sich nur auf seine Stärken besinnen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person: Michael Draksal ist Präsident der Deutschen Mentaltrainer-Akademie e.V. und Zertifizierungsbeauftragter beim Deutschen Bundesverband Sportmentaltraining e.V. Der Sportwissenschaftler und Mentaltrainer mit A-Lizenz trainierte den viermaligen Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel vor seinem ersten WM-Sieg. Im Skispringen arbeitete er im Jahre 2000 am Olympiastützpunkt Freiburg/Schwarzwald, wo zu der Zeit auch Martin Schmitt und Sven Hannawald betreut wurden. Darüberhinaus trainierte er Skispringerin Julina Kreibich nach ihrem Kreuzbandriss mental (#ComebackStronger) – danach wurde sie im Februar 2025 in Lake Placid Weltmeisterin bei den Juniorinnen mit der Mannschaft.

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Über Marco Ries 950 Artikel
Inhaber und Chefredakteur von skispringen.com. Hat sich nach der Jahrtausendwende am Skisprungfieber anstecken lassen und 2009 dieses Angebot gegründet. Studiert an der Universität Heidelberg und arbeitet nicht nur im Winter als freier Journalist und Autor (u.a. das Buch „Unnützes Skisprungwissen“).

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