Ein Rückblick auf die Saison der Herren

Tops & Flops: Die Saison der Skispringer in der Analyse

Foto: GEPA

Unerwartet abrupt endete die Skisprung-Saison schon Mitte März. Dennoch gebührt es die Chronistenpflicht, einen umfassenden Rückblick zu wagen. Die Tops & Flops von skispringen.com.

So turbulent dieser Skisprung-Winter war, so turbulent endete er auch: Mit dem vorzeitigen Saisonende aufgrund der Corona-Krise. Es ist ein zweifelhaftes historisches Ereignis, denn erstmals seit der Saison 1970/1971 endet eine Skisprung-Saison, ohne dass ein Olympiasieger oder (Skiflug-)Weltmeister gekürt wurde. Und dennoch hat skispringen.com die Gewinner und Verlierer nochmal zusammengetragen – hier sind die Tops & Flops.

Wenn man sich auf die Suche nach dem Mann der Saison begibt, ist der Gesamtweltcupsieger zweifellos die beste Adresse. Bei dessen Anschrift landet man diesmal beim Namen Stefan Kraft. Mit 1659 Punkten, fünf Tagessiegen und insgesamt 15 Podestplätzen war der Österreicher in dieser Saison der beständigste Skispringer. Und wie schon bei seinem ersten Triumph 2016/2017 sackte er zudem auch die Skiflug-Gesamtwertung ein. Zwei Kristallkugeln in einem Winter sind eine sehenswerte Sammlung.

Kraft versus Geiger – auch das Duell der Stilisten

Doch bei jedem großen Champion gibt es auch den Herausforderer. Denjenigen, der den Großmeister erst zu Höchstleistungen treibt. Und das war im Winter 2019/2020 niemand geringerer als Karl Geiger. Mit seinen zwei Weltmeistertiteln aus Seefeld im Rücken erreichte er im Saisonverlauf für ihn neue Sphären in Sachen Konstanz – mit 25 Top-12-Plätzen in Folge. Diese brach erst bei der unvollendeten „Raw Air“ ein, bei der dann auch der Kampf um den Gesamtweltcup schon vorentschieden war.

Elf Podestplätze, inklusive vier Siege verdeutlichen das hohe Grundniveau, durch das sich der Oberstdorfer heuer auszeichnete. Fünfmal stand Geiger auf dem zweiten Platz und gerade die letzten beiden jener zweiten Plätze entfachten in der Skisprungfamilie intensive Diskussionen um die (vermeintliche) Bevorteilung des Österreichers durch die Punktrichter. Fakt ist: Kraft hat durch seine geringere Körpergröße rein anatomisch einen Vorteil, da er in höheren Weitenbereichen weniger Landedruck aushalten muss. Dass der Deutsche aber deshalb grundsätzlich schlechter wegkommt, egal wie gut er landet, ist jedoch nicht richtig.

DSV-Adler trotzen allen Widerständen

Ebenso wenig korrekt war die eingangs des Winters harsche Kritik am gesamten DSV-Team. Klar war der Saisonstart ein stotteriger, doch dabei sollten auch die Umstände nicht vergessen werden. Es braucht Zeit, bis sich eine Mannschaft und ein fast komplett ausgetauschter Trainerstab finden. Und die Saisonausfälle von Andreas Wellinger und David Siegel trugen ihren Teil dazu bei.

Umso bemerkenswerter ist dann, wie sich die DSV-Adler von Woche zu Woche in die Saison hinein fuchsten und Ergebnisse abliefern. Und das so stark und beständig, dass sie den lange Zeit dominierenden Österreichern noch den Nationencup vor der Nase wegschnappten. In einer Saison, die zwischen zwei Weltmeisterschaften liegt, wohlgemerkt. Dazu trugen vor allem auch Youngster Constantin Schmid (sieben Top-Ten-Plätze, inklusive erstem Podest) und Pius Paschke bei, der die Saison seines Lebens sprang.

Der Modellflieger und der Shooting-Star

Natürlich darf in einer Auflistung der Top-Springer der Saison auch der Vierschanzentourneesieger nicht fehlen. Vor allem, wenn dieser in der Weltcup-Gesamtwertung als bester Pole Platz vier belegt und damit noch vor Skisprung-Idol Kamil Stoch landet. Die Rede ist natürlich von Dawid Kubacki, den wir nach seinem Tournee-Triumph bereits ausführlich vorgestellt haben. Daher an dieser Stelle gerne noch mal der Verweis an unser Porträt des passionierten Modellfliegers, der nicht nur die Tournee, sondern auch die beiden Springen in Titisee-Neustadt gewann.

Wenn man aber schon bei der Tournee ist, darf man den Namen Marius Lindvik natürlich auch nicht unerwähnt lassen. Der Norweger hatte schon in Ruka das Podest in Sichtweite, wurde dann aber nach dem zweiten Durchgang disqualifiziert. Zwei Wochen später wurde er Dritter in Klingenthal, nachdem er zuvor in Nischni Tagil das Finale verpasst hatte. Doch als wirklich alle Augen auf das Skispringen gerichtet waren, explodierte der Shooting-Star förmlich, gewann die Springen in Garmisch-Partenkirchen und Innsbruck und beendete die Tournee als Zweiter. Und mit Rang sieben im Gesamtweltcup bewies er, dass das kein Zufall war.

Es ist ein Kreuz mit dem Knie

So wie die Saison begann, so endete sie auch – auch in Bezug auf Meldungen aus dem Lazarett. Noch bevor es so richtig losging, mit dem Sommer-Grand-Prix wohlgemerkt, erhielten Andreas Wellinger und Anders Fannemel innerhalb von einem Monat die Diagnose Kreuzbandriss, welche für beide gleichbedeutend mit dem vorzeitigen Saisonaus war.

In Klingenthal erwischte es Mitte Dezember dann mit Thomas Aasen Markeng einen zweiten Norweger, die im Sommer schon den Rücktritt von Kenneth Gangnes nach drei Kreuzbandrissen hinnehmen mussten. Der Junioren-Weltmeister von 2019 macht jedoch erstaunliche Genesungsfortschritte und könnte wohl gemeinsam mit dem Rest des Teams das Frühjahrs-Training wieder aufnehmen.

Anders sieht es bei Stephan Leyhe aus, der ausgerechnet am letzten Sprungtag der Saison in Trondheim stürzte und nun den steinigen Genesungsweg vor sich hat, ehe überhaupt an eine Teilnahme an der Heim-WM 2021 in Oberstdorf zu denken ist, auch wenn er sich in den sozialen Netzwerken zuversichtlich gibt.

Noch in Trondheim gab es ein erstes Meeting, indem über mögliche Materialänderungen diskutiert wurde. So steht im Raum, dass die Anzüge wieder weiter geschnitten werden sollen, was zu einer Verringerung der Sprunggeschwindigkeit und damit auch weniger Landedruck führen würde. Neben ersten bereits veröffentlichten unabhängigen Studien will auch die FIS-Materialkommission im Frühjahr ihre Erkenntnisse erörtern. Das ist gut und wichtig so, denn derzeitige Zustand ist nicht tragbar.

Was war da denn bitte los?

Diese Frage stellte man sich, als es rund um das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen mehrere Beschwerden über zweifelhafte Zustände in Unterkünften und der Organisation an der Schanze gab. Norwegens Cheftrainer Alexander Stöckl stellte sich vor die Presse, das Organisationskomitee reagierte mit einem öffentlichen Brief. Die Wahrheit lag wohl, wie fast immer im Leben, irgendwo in der Mitte. Doch solche Vorkommnisse sind im sonst recht beschaulichen Skisprungsport ungewöhnlich und gehören deshalb irgendwo auch nochmals in diesen Rückblick.

Ebenso seltsam mutete auch die Trainer-Posse in Tschechien an, als Cheftrainer David Jiroutek am Heimreisetag nach dem Weltcup in Predazzo vor die Tür gesetzt wurde. Trainerentlassungen kommen schon mal vor, auch im Skispringen. Aber mitten in der Saison? Reichlich skurril, zumal sich nach der Entlassung nichts änderte. Weder am minimalen Budget, noch an den Leistungen der Springer, was jedoch auch eine Wechselwirkung darstellt.

Ebenso wenig schlau wurde man aus den Leistungen von Richard Freitag. Der Botschafter der Junioren-Weltmeisterschaften in seinem Heimatort Oberwiesenthal kam schlicht nicht in Tritt und verzeichnete lediglich einen 15. Platz in Ruka als bestes Saisonresultat. Auch die zwischenzeitlich verordnete Trainingspause brachte nicht den erwünschten Effekt, sodass ihm am Ende gar Severin Freund vorgezogen wurde, der nach über einem Jahr wieder im Weltcup mitspringen durfte und herzlich empfangen wurde.

Reise nach Jerusalem auf Skispringerisch

Man hätte schon im Vorfeld der Saison ahnen können, dass das eine komplizierte Angelegenheit wird. Denn schon während der Kalender-Zusammenstellung traten erste Schwierigkeiten auf. Ursprünglich sollte mit Erzurum erstmals ein türkischer Ausrichter im Weltcup auftauchen, der verschwand dann aber ebenso aus den Planungen wie Iron Mountain in den USA.

Stattdessen gab es dann die Weltpremiere in Rasnov, Rumänien. Dort sollte eigentlich der 1000. Einzel-Weltcup der Geschichte stattfinden sollen, tat er aber nicht, weil das zweite Einzelspringen in Ruka ausfiel und dann in Lahti nachgeholt wurde. Und dennoch ließ sich festhalten: Die emsigen Rumänen bewiesen, warum sie seit Jahren im Kalender der Damen auftauchen. Die Herren, von denen viele zum ersten Mal bei Graf Dracula vorbeischauten, waren begeistert und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen – also nicht nur Karl Geiger. Auf ein Neues, wann auch immer es so weit sein wird.

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Über Luis Holuch 520 Artikel
Seit 2010 als Journalist tätig und hat 2017 sein erstes Buch veröffentlicht. Wie es die Leidenschaft wollte, ging es darin um das Damen-Skispringen. Genau dafür ist er bei skispringen.com auch primär zuständig. Kommentierte den offiziellen Live-Stream der Junioren-WM 2020, sowie die FIS-Classics-Serie und die Continentalcup-Finals der Nordischen Kombination.

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